Erich Fromm: Die verschiedenen Weisen, die Natur zu erfassen in der Dichtung

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Inhalt

1. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein
2. Beispiele aus der Dichtung
3. Tennysons Gedicht (analytisch- sezierende Denkweise)
4. Bashos Gedicht (ganzheitliches Erfassen)
5. Goethes Gedicht "Gefunden" (analytisch-forschende Denkweise)
    Goethes Gedicht "Eigentum" (ganzheitlich-emotionales Erfassen)
6. Unterschied materiell - geistig


 

 

Kap. 1 Auf den ersten Blick (E. Fromm)

Zitat aus: "Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein."

Die Alternative Haben oder Sein leuchtet dem gesunden Menschenverstand nicht ein. Haben, so scheint es uns, ist etwas ganz Normales im Leben; um leben zu können, müssen wir Dinge haben, ja, wir müssen Dinge haben, um uns an ihnen zu erfreuen. In einer Gesellschaft, in der es das oberste Ziel ist, zu haben und immer mehr zu haben, in der man davon spricht, ein Mann sei »eine Million wert«: wie kann es da eine Alternative zwischen Haben und Sein geben? Es scheint im Gegenteil so, als bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, so dass nichts ist, wer nichts hat.

Die großen Meister des Lebens haben jedoch in der Alternative zwischen Haben und Sein eine Kernfrage ihrer jeweiligen Anschauung gesehen. Buddha lehrt, dass nicht nach Besitz streben dürfe, wer die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung erreichen wolle. Jesus sagt: »Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten. Denn was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert und Schaden erleidet?« (Lk. 9,24 f.). Meister Eckhart lehrt, nichts zu haben und sich selbst offen und »leer« zu machen, sich selbst mit seinem eigenen Ich nicht im Wege zu stehen, sei die Voraussetzung, um geistigen Reichtum und Kraft zu erlangen. Marx lehrt, dass Luxus ein genauso großes Laster sei wie Armut und dass es unser Ziel sein müsse, viel zu sein, nicht viel zu haben. (Ich beziehe mich hier auf den wirklichen Marx, den radikalen Humanisten, nicht auf die üblichen Fälschungen, wie sie der Sowjetkommunismus vornimmt.)

 

Haben und Sein

Diese Unterscheidung hat mich seit Jahren beeindruckt. Ich suchte ihre empirische Grundlage durch das konkrete Studium von einzelnen und von Gruppen mit Hilfe der psychoanalytischen Methode zufinden. Was ich fand, legte mir den Schluss nahe, dass diese Unterscheidung zusammen mit jener zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Toten das entscheidendste Problem der menschlichen Existenz ist; dass die empirischen Daten der Anthropologie und der Psychoanalyse darauf hindeuten, dass Haben und Sein zwei grundlegend verschiedene Formen menschlichen Erlebens sind, deren jeweilige Stärke Unterschiede zwischen den Charakteren von einzelnen und zwischen verschiedenen Typen des Gesellschafts-Charakters bestimmt.

 

Individuell und gesellschaftlich

2. Beispiele aus der Dichtung

Um Unterschied zwischen der Existenzweise des Habens und der Existenzweise des Seins zu verdeutlichen, möchte ich als Beispiel zwei Gedichte ähnlichen Inhalts zitieren, die der verstorbene D. T. Suzuki in seinen Vorlesungen >Über Zen-Buddhismus< (1960) zitiert. Das eine ist ein Haiku von dem japanischen Dichter Basho (1644-1694), das andere stammt von einem englischen Dichter des 19. Jahrhunderts, von Tennyson . Beide beschreiben das gleiche Erlebnis: ihre Reaktion auf eine Blume, die sie auf einem Spaziergang sehen.

 

 

Tennysons Gedicht lautet:

Flower in a crannied wall,
I pluck you out of the crannies,
I hold you here, root and all, in my hand,
Little flower - but if I could understand
What you are, root und all, and all in all,
I should know what God and man is.

Blume in der geborstenen Mauer,
Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand,
Kleine Blume - doch wenn ich verstehen könnte,
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist,
Wüßte ich, was Gott und Mensch ist.

(Übersetzung: Marion Steipe)

 

Haben

Bashos Haiku lautet so:

Yoku mireba
Nazuna hana saku
Kakine kana

Wenn ich aufmerksam schaue,
Seh' ich die Nazuna
An der Hecke blühen!

Der Unterschied fällt ins Auge. Tennyson reagiert auf die Blume mit dem Wunsch, sie zu haben. Er pflückt sie �mitsamt den Wurzeln«.

Sein Interesse an ihr führt dazu, dass er sie tötet, während er mit der intellektuellen Spekulation schließ�t, dass ihm die Blume eventuell dazu dienen könne, die Natur Gottes und des Menschen zu begreifen. Tennyson kann in diesem Gedicht mit dem westlichen Wissenschaftler verglichen werden, der die Wahrheit sucht, indem er das Leben zerstückelt.

Bashos Reaktion auf die Blume ist vollkommen anders. Er will sie nicht pflücken; er berührt sie nicht einmal. Er »schaut« aufmerksamer, um sie zu »sehen«.

Suzuki schreibt dazu (1960, S. 1): �Wahrscheinlich ging Basho eine Landstra�e entlang, als er etwas bemerkte, was unscheinbar an der Hecke stand. Er näherte sich, sah genau hin und fand, dass es nichts als eine wilde Pflanze war, die recht unbedeutend ist und für gewöhnlich von Vorübergehenden nicht beachtet wird. Es ist eine einfache Tatsache, die in dem Gedicht beschrieben wird, ohne dass dabei ein besonders poetisches Gefühl zum Ausdruck kommt, au�er vielleicht in den beiden letzten Silben, die auf japanisch kana lauten. Diese Partikel, die häufig an ein Hauptwort, ein Adjektiv oder ein Adverb angehängt wird, drückt ein gewisses Gefühl der Bewunderung, des Lobes, des Leidens oder der Freude aus und kann manchmal in der Übersetzung ziemlich treffend durch ein Ausrufungszeichen wiedergegeben werden. Im vorliegenden Haiku endet der ganze Vers mit einem solchen Ausrufungszeichen.� Tennyson muss die Blume besitzen, um den Menschen und die Natur zu verstehen und dadurch, dass er sie hat, zerstört er die Blume. Basho möchte sehen, er möchte die Blume nicht nur anschauen, er möchte mit ihr eins sein, sich mit ihr vereinen - und sie leben lassen.

Den Unterschied zwischen Tennyson und Basho verdeutlicht ein Gedicht von Goethe :

Gefunden

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt' es fein:
soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grubs mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ichs
Am hübschen Haus,

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

Goethe geht ohne Absicht spazieren, als die leuchtende kleine Blume seine Aufmerksamkeit erregt. Er berichtet, dass er den gleichen Impuls hat wie Tennyson, nämlich die Blume zu pflücken. Aber anders als Tennyson ist er sich bewusst, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Die Blume ist so lebendig für ihn, dass sie zu ihm spricht und ihn warnt. Er löst das Problem also anders als Tennyson und Basho. Er gräbt die Blume aus und verpflanzt sie, damit ihr Leben erhalten bleibt. Goethe steht gewisserma�en zwischen Basho und Tennyson, aber im entscheidenden Augenblick ist seine Liebe zum Leben stärker als die rein intellektuelle Neugier. Dieses schöne Gedicht drückt offensichtlich Goethes Grundeinstellung zur Erforschung der Natur aus.

Tennysons Beziehung zu der Blume ist von der Weise des Habens oder der des Besitzenwollens geprägt, wobei es nicht um materiellen Besitz, sondern um den Besitz von Wissen geht. Die Beziehung Bashos und Goethe ist von der Weise des Seins gekennzeichnet. Mit >Sein< meine ich eine Existenzweise, in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt, sondern voller Freude ist, seine Fähigkeiten produktiv nutzt und eins mit der Welt ist.

 

Unterschiede in der Auffassung vom "Leben"

Goethe, der leidenschaftliche Anwalt des Lebens und Kämpfer gegen die Zerstückelung und Mechanisierung des Menschen, hat in vielen Gedichten für das Sein und gegen das Haben Partei ergriffen und den Konflikt zwischen Haben und Sein in seinem >Faust< dramatisch gestaltet, in dem Mephistoteles das Haben verkörpert. Es gibt ein kurzes Gedicht von ihm, das die Qualität des Seins mit unübertrefflicher Schlichtheit charakterisiert:

Eigentum

Ich wei�, da� mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fliehen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus lä�t genie�en.

 

Leben

Der Unterschied Haben - Sein

Doch der Unterschied zwischen Sein und Haben ist nicht identisch mit dem Unterschied zwischen östlichem und westlichem Denken. Er entspricht vielmehr dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft) die den Menschen zum Mittelpunkt hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht, Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen der westlichen Industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden Thema des Lebens wurde. Weniger entfremdete Gesellschaften, wie die des Mittelalters oder der Zuni-Indianer oder die bestimmter afrikanischer Stimme, die noch nicht von den heutigen Ideen des >Fortschritts< infiziert sind, haben ihre eigenen Bashos; und vielleicht werden Japaner nach ein paar weiteren Generationen der Industrialisierung ihre eigenen Tennysons haben. Es ist nicht so, dass der westliche Mensch östliche Systeme wie den Zen-Buddhismus, nicht ganz begreifen kann (wie C.G. Jung meinte), sondern dass der moderne Mensch den Geist einer Gesellschaft nicht zu begreifen vermag, die nicht auf Eigentum und Habgier aufgebaut ist. In der Tat ist Meister Eckhart ebenso schwer zu verstehen wie Basho oder Zen, doch Eckhart und der Buddhismus sind in Wirklichkeit nur zwei Dialekte der gleichen Sprache.

 

materiell - geistig

Autor (Text):

Erich Fromm: Haben oder Sein; Die seelischen Grundlage einer neuen Gesellschaft; (Literaturverzeichnis l148)
  Kap. 1: Auf den ersten Blick;
    Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein;
      Beispiele aus der Dichtung

 

Bearbeitung (www):

Klaus-G. Häusler: Gedichte in alter deutscher Rechtschreibung;
Prosa-Text in die neue deutscher Rechtschreibung überführt;
Stichworte eingefügt

Literatur:

Erich Fromm: Haben oder Sein: die seel. Grundlagen e. neuen Gesellschaft / Erich Fromm. [Ins Dt. übertr. von Brigitte Stein] Deutsche Nationalbibliothek geht online

Seilnacht: geht online (vermeintlicher) Brief des Häuptlings Seattle an den amerikanischen Präsidenten;