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Kap. 1 Auf den ersten Blick (E. Fromm) 
Zitat aus: "Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein."
Die Alternative Haben oder Sein leuchtet dem gesunden Menschenverstand nicht ein. Haben, so scheint es uns, ist etwas ganz Normales im
Leben; um leben zu können, müssen wir Dinge haben, ja, wir müssen Dinge haben, um uns
an ihnen zu erfreuen. In einer Gesellschaft, in der es das oberste Ziel ist, zu haben und
immer mehr zu haben, in der man davon spricht, ein Mann sei »eine Million wert«: wie
kann es da eine Alternative zwischen Haben und Sein geben? Es scheint im Gegenteil so, als
bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, so dass nichts ist, wer nichts hat.
Die großen Meister des Lebens haben jedoch in der Alternative zwischen
Haben und Sein eine Kernfrage ihrer jeweiligen Anschauung gesehen. Buddha lehrt,
dass
nicht nach Besitz streben dürfe, wer die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung
erreichen wolle. Jesus sagt: »Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer
aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten. Denn was nützt es dem
Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert und Schaden
erleidet?« (Lk. 9,24 f.). Meister Eckhart lehrt, nichts zu haben und sich selbst offen
und »leer« zu machen, sich selbst mit seinem eigenen Ich nicht im Wege zu stehen, sei
die Voraussetzung, um geistigen Reichtum und Kraft zu erlangen. Marx lehrt,
dass Luxus ein genauso großes Laster sei wie Armut und dass es unser Ziel sein müsse, viel zu sein, nicht
viel zu haben. (Ich beziehe mich hier auf den wirklichen Marx, den radikalen
Humanisten, nicht auf die üblichen Fälschungen, wie sie der Sowjetkommunismus vornimmt.)
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Haben und Sein |
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Diese Unterscheidung hat mich seit Jahren beeindruckt. Ich suchte ihre empirische
Grundlage durch das konkrete Studium von einzelnen und von Gruppen mit Hilfe der
psychoanalytischen Methode zufinden. Was ich fand, legte mir den Schluss nahe,
dass diese Unterscheidung zusammen mit jener zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Toten das
entscheidendste Problem der menschlichen Existenz ist; dass die empirischen Daten der
Anthropologie und der Psychoanalyse darauf hindeuten, dass Haben und Sein zwei
grundlegend verschiedene Formen menschlichen Erlebens sind, deren jeweilige Stärke
Unterschiede zwischen den Charakteren von einzelnen und zwischen verschiedenen Typen des
Gesellschafts-Charakters bestimmt.
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Individuell und gesellschaftlich |
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2. Beispiele aus der Dichtung
Um Unterschied zwischen der Existenzweise des Habens und der Existenzweise des Seins zu verdeutlichen,
möchte ich als Beispiel zwei Gedichte ähnlichen Inhalts zitieren, die der verstorbene D. T. Suzuki in seinen Vorlesungen >Über Zen-Buddhismus< (1960) zitiert. Das eine ist ein Haiku von dem japanischen Dichter Basho (1644-1694), das andere stammt von einem englischen Dichter
des 19. Jahrhunderts, von Tennyson . Beide beschreiben das gleiche Erlebnis: ihre Reaktion
auf eine Blume, die sie auf einem Spaziergang sehen.
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Tennysons Gedicht
lautet:
Flower in a crannied wall,
I pluck you out of the crannies,
I hold you here, root and all, in my hand,
Little flower - but if I could understand
What you are, root und all, and all in all,
I should know what God and man is.
Blume in der geborstenen Mauer,
Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand,
Kleine Blume - doch wenn ich verstehen könnte,
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist,
Wüßte ich, was Gott und Mensch ist.
(Übersetzung: Marion Steipe)
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Haben |
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Bashos Haiku lautet so:
Yoku mireba
Nazuna hana saku
Kakine kana
Wenn ich aufmerksam schaue,
Seh' ich die Nazuna
An der Hecke blühen!
Der Unterschied fällt ins Auge. Tennyson reagiert auf die Blume mit dem Wunsch, sie zu haben. Er pflückt sie �mitsamt den Wurzeln«.
Sein Interesse an ihr führt dazu, dass er sie tötet, während er mit
der intellektuellen Spekulation schlie�t, dass ihm die Blume eventuell dazu dienen
könne, die Natur Gottes und des Menschen zu begreifen. Tennyson kann in diesem Gedicht
mit dem westlichen Wissenschaftler verglichen werden, der die Wahrheit sucht, indem er das
Leben zerstückelt.
Bashos Reaktion auf die Blume ist vollkommen anders. Er will sie nicht pflücken; er
berührt sie nicht einmal. Er »schaut« aufmerksamer, um sie zu »sehen«.
Suzuki schreibt dazu (1960, S. 1): �Wahrscheinlich ging Basho eine Landstra�e
entlang, als er etwas bemerkte, was unscheinbar an der Hecke stand. Er näherte sich, sah
genau hin und fand, dass es nichts als eine wilde Pflanze war, die recht unbedeutend ist
und für gewöhnlich von Vorübergehenden nicht beachtet wird. Es ist eine einfache
Tatsache, die in dem Gedicht beschrieben wird, ohne dass dabei ein besonders poetisches
Gefühl zum Ausdruck kommt, au�er vielleicht in den beiden letzten Silben, die auf
japanisch kana lauten. Diese Partikel, die häufig an ein Hauptwort, ein Adjektiv oder
ein Adverb angehängt wird, drückt ein gewisses Gefühl der Bewunderung, des Lobes, des
Leidens oder der Freude aus und kann manchmal in der Übersetzung ziemlich treffend durch
ein Ausrufungszeichen wiedergegeben werden. Im vorliegenden Haiku endet der ganze Vers mit
einem solchen Ausrufungszeichen.� Tennyson muss die Blume besitzen, um den Menschen und
die Natur zu verstehen und dadurch, dass er sie hat, zerstört er die Blume.
Basho möchte sehen, er möchte die Blume nicht nur anschauen, er möchte mit ihr eins
sein, sich mit ihr vereinen - und sie leben lassen.
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Den
Unterschied zwischen Tennyson und Basho verdeutlicht ein Gedicht von Goethe :
Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen,
Da sagt' es fein:
soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Ich grubs mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ichs
Am hübschen Haus,
Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.
Goethe geht ohne Absicht spazieren, als die leuchtende kleine Blume
seine Aufmerksamkeit erregt. Er berichtet, dass er den gleichen Impuls hat wie Tennyson,
nämlich die Blume zu pflücken. Aber anders als Tennyson ist er sich bewusst,
dass dies
ihren Tod bedeuten würde. Die Blume ist so lebendig für ihn, dass sie zu ihm spricht und
ihn warnt. Er löst das Problem also anders als Tennyson und Basho. Er gräbt die Blume
aus und verpflanzt sie, damit ihr Leben erhalten bleibt. Goethe steht gewisserma�en
zwischen Basho und Tennyson, aber im entscheidenden Augenblick ist seine Liebe zum Leben
stärker als die rein intellektuelle Neugier. Dieses schöne Gedicht drückt
offensichtlich Goethes Grundeinstellung zur Erforschung der Natur aus.
Tennysons Beziehung zu der Blume ist von der
Weise des Habens oder der des Besitzenwollens geprägt, wobei es nicht um materiellen
Besitz, sondern um den Besitz von Wissen geht. Die Beziehung Bashos und Goethe ist von der
Weise des Seins gekennzeichnet. Mit >Sein< meine ich eine Existenzweise, in der man
nichts hat und nichts zu haben begehrt, sondern voller Freude ist, seine
Fähigkeiten produktiv nutzt und eins mit der Welt ist.
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Unterschiede in der Auffassung vom "Leben" |
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Goethe, der leidenschaftliche Anwalt des Lebens
und Kämpfer gegen die Zerstückelung und Mechanisierung des Menschen, hat in vielen
Gedichten für das Sein und gegen das Haben Partei ergriffen und den Konflikt zwischen
Haben und Sein in seinem >Faust< dramatisch gestaltet, in dem Mephistoteles das
Haben verkörpert. Es gibt ein kurzes Gedicht von ihm, das die Qualität des Seins mit
unübertrefflicher Schlichtheit charakterisiert:
Eigentum
Ich wei�, da� mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fliehen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus lä�t genie�en.
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Leben |
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Der Unterschied Haben - Sein
Doch der Unterschied zwischen Sein und Haben ist
nicht identisch mit dem Unterschied zwischen östlichem und westlichem Denken. Er
entspricht vielmehr dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft) die den
Menschen zum Mittelpunkt hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht,
Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen der westlichen
Industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden
Thema des Lebens wurde. Weniger entfremdete Gesellschaften, wie die des Mittelalters oder
der Zuni-Indianer oder die bestimmter afrikanischer Stimme, die noch nicht von den
heutigen Ideen des >Fortschritts< infiziert sind, haben ihre eigenen Bashos; und
vielleicht werden Japaner nach ein paar weiteren Generationen der Industrialisierung ihre
eigenen Tennysons haben. Es ist nicht so, dass der westliche Mensch östliche Systeme wie
den Zen-Buddhismus, nicht ganz begreifen kann (wie C.G. Jung meinte), sondern
dass der
moderne Mensch den Geist einer Gesellschaft nicht zu begreifen vermag, die nicht auf
Eigentum und Habgier aufgebaut ist. In der Tat ist Meister Eckhart ebenso schwer zu
verstehen wie Basho oder Zen, doch Eckhart und der Buddhismus sind in Wirklichkeit nur
zwei Dialekte der gleichen Sprache.
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materiell - geistig |
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Autor (Text):
Erich Fromm: Haben oder Sein; Die seelischen Grundlage einer neuen Gesellschaft; (Literaturverzeichnis l148 )
Kap. 1: Auf den ersten Blick;
Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein;
Beispiele aus der Dichtung
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Bearbeitung (www):
Klaus-G. Häusler: Gedichte in alter deutscher Rechtschreibung;
Prosa-Text in die neue deutscher Rechtschreibung überführt;
Stichworte eingefügt
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Literatur:
Erich Fromm: Haben oder Sein: die seel. Grundlagen e. neuen Gesellschaft / Erich Fromm. [Ins Dt. übertr. von Brigitte Stein] Deutsche Nationalbibliothek 
Seilnacht: (vermeintlicher) Brief des Häuptlings Seattle an den amerikanischen Präsidenten;
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