Hans Joachim Störig
"Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft"  

            Ausschnitte aus dem Buch: "Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft" 

S.467 - S.494

 

Inhalt

 

III. PHYSIK

Ausschnitte aus dem Buch: "Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft" (S.467 - 474 (494) )

III. PHYSIK

Drei ausgewählte Kapitel aus der Physik des 19.Jahrhunderts sollen hier
beleuchtet werden: 

  1. die Wärmelehre und in Zusammenhang mit ihr die Ausbildung des allgemeinen Energiebegriffs und der Grundgesetze der Energetik;
  2. die Entwicklung der Lehre von Licht und Elektrizität; 
  3. einige Auswirkungen der hier gewonnenen neuen Erkenntnisse in Technik, Wirtschaft und Leben.

Dieses Vorgehen hat den Vorteil, daß wenigstens die wichtigsten Straßen der Entwicklung im Zusammenhang erkennbar werden. Dem stehen Nachteile gegenüber: Dies sind die wichtigsten, aber nicht die einzigen wichtigen Kapitel, denn auch die Lehre vom Schall und die allgemeine Mechanik zum Beispiel wurden weitergebildet. Ferner tritt nicht deutlich hervor, wie die verschiedenen Teilgebiete zusammenhängen und wie die physikalischen Erkenntnisse mit denen der Chemie verflochten sind.

1. Wärmetheorie und allgemeine Energielehre

Blicken wir einen Augenblick zurück auf den Stand, in dem wir Physik und Chemie am Ausgang des 18. Jahrhunderts verlassen haben:

Man beschäftigte sich zunehmend mit der Wärme, erkannte oder ahnte wenigstens seit Rumford ihr wahres Wesen. Die Dampfmaschine trat auf. Die Elektrizitätslehre begann sich zu entfalten. In der Chemie durchschaute man den Verbrennungsvorgang; Lavoisier formulierte das Gesetz von der Erhaltung der Massen. Man sieht: mit Ausnahme des Massenerhaltungsgesetzes (das erst im 20. Jahrhundert in den hier zu betrachtenden Zusammenhang eingefügt wurde) kreist alles um die gleiche Grundtatsache: Energie.

Ein Mensch ohne jede wissenschaftliche Vorbildung, ein "Naturmensch" oder ein Kind, das heranwächst, kann dieser Grundtatsache in den mannigfaltigsten Erscheinungsformen begegnen: Das Auge vermittelt ihm Lichteindrücke, die Haut Temperaturempfindungen. Er sieht die Wirkung der Schwerkraft. Er beobachtet chemische Reaktionen. Er sieht oder fühlt, sofern er derartigem begegnet, Wirkungen des Magnetismus und der Elektrizität. Er wird nicht ohne weiteres auf den Gedanken kommen, diese qualitativ ganz verschiedenen, auch durch verschiedene Sinnesorgane vermittelten Eindrücke und Erfahrungen einer gemeinsamen Ursache zuzuschreiben.

In der gleichen Lage war die heranwachsende Naturwissenschaft. Sie begegnete und untersuchte auf dem Wege, den wir verfolgt haben, Schwerkraft, Licht, Wärme, Magnetismus, Elektrizität, chemische Vorgänge - jedes für sich. Auch heute noch beginnt jeder physikalische Unterricht damit, daß man diese verschiedenen Erfahrungsbereiche in Mechanik, Optik, Wärmelehre, Elektrizitätslehre, Chemie gesondert vorführt und erklärt. Auch in der Wissenschaft konnte erst der zweite Schritt darin bestehen, den diesen Erscheinungen zugrunde liegenden Tatbestand zu erhellen. Der Weg der Wissenschaft zu dieser Erkenntnis bestand vor allem darin, daß man die qualitativ so verschiedenen Erscheinungen quantitativ zu erfassen lernte. So führen die Fortschritte in Wärmemessung, Elektrizitätsmessung, das Eindringen quantitativer Methoden wie insbesondere des Wägens in die Chemie, alle auf dieses Ziel hin.

a) Erhaltung der Energie

Dieses Ziel heißt: Gesetz von der Erhaltung der Energie. Verzichten wir darauf, den Satz hier in der wissenschaftlich exakten und nicht ganz einfachen Fassung wiederzugeben, die er in der heutigen Wissenschaft hat, und versuchen wir lediglich im Anschluß an unsere bisherigen Betrachtungen klarzumachen, was der Satz besagt - so finden wir, daß er im Grunde drei Erkenntnisse enthält:

  1. Es ist möglich, das, was uns in den genannten verschiedenen Formen begegnet, in andere dieser Formen umzuwandeln. Diese Erkenntnis läßt sich aus der Erfahrung ableiten.
  2. Bei solcher Umwandlung - das liegt schon in diesem Begriff - tritt das gleiche Etwas in verschiedenen Formen auf. Dieses Etwas nennen wir Energie ein Ausdruck, der bezeichnenderweise erst im 19. Jahrhundert in die Physik eingeführt wurde durch Thomas Young (1807), durchgesetzt durch Lord Kelvin und durch William Macquorn Rankine (1853). Diese zweite Erkenntnis ist eine viel weitergreifende Verallgemeinerung als die erste. Ober ihre Zulässigkeit kann man von einem bestimmten Standpunkt aus zumindest streiten. Man könnte sagen: Energie als solche begegnet uns eigentlich nirgends in der Erfahrung. Wo wir sie antreffen, hat sie immer eine der verschiedenen Formen, die wir ihr zuschreiben. Wenn wir von Umwandlung sprechen, so handelt es sich im Grunde lediglich darum, daß eine Erscheinung - z. B. Wärme - verschwindet und eine andere auftritt. Was berechtigt uns, anzunehmen, daß hier das gleiche Substrat zugrunde liegt?
  3. Der Satz besagt schließlich: Die "Umwandlung" geht immer und überall in bestimmtem quantitativen Verhältnis vor sich, so daß "Energie" weder ins Nichts verschwindet noch aus dem Nichts hinzutritt. Das gilt für jedes "geschlossene System" und bei weiterer Verallgemeinerung auch für das Weltganze.

Dieser so grundlegende Satz ist von geradezu frappierender Einfachheit. Simplex sigillum veri - möchte man ausrufen. Es ist zwar durchaus verfehlt, jedenfalls in der Wissenschaft, das Wahre und das Einfache schlechtweg gleichzusetzen. Wer sagt uns, die Welt müsse so beschaffen sein, daß sie für unseren Verstand einfach erscheint? Doch bei diesem Satz ist es offenbar so.

Der Satz ist so grundlegend, daß seine Einführung einen geeigneten Anlaß böte, zurückzuschauen auf die gesamte Entwicklung der Naturwissenschaft und zu fragen, wie die verschiedensten Erkenntnisse und Entwicklungslinien auf ihn hinführen; zugleich vorauszublicken auf seine Auswirkung in den verschiedensten Zweigen des Wissens. Mit jedem der beiden Themen ließe sich ein Kapitel, ja ein Buch füllen. Unsere nachfolgenden Bemerkungen können nur als erste Annäherung an den Gegenstand gelten und vielleicht den Leser zu genauerer Beschäftigung mit der Sache anregen.

Schon ein flüchtiger Blick auf die vorangegangene Zeit zeigt eine ganze Reihe von Forschern und von Erkenntnissen, die mehr oder weniger unausgesprochen den Erhaltungssatz vorwegnehmen. Energie aus einer Form in eine andere umwandeln - das tat schon, ohne es zu wissen, jener ferne Vorzeitmensch, der sein erstes Feuer durch Reiben von Holzstäbchen erzeugte. Mechanische Energie umgekehrt aus Wärme zu gewinnen - auch das tat schon Heron mit seiner Dampfmaschine. Im engeren Bereich der Physik gibt es weniges, das nicht in irgendeiner Form in die Vorgeschichte dieses Gesetzes einzubeziehen ist. Einige Beispiele:
Als Satz von der Erhaltung der Bewegung ist das Prinzip schon bei Demokrit (vgl. S. 83) ausgesprochen. In dem Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus (Lukrez), das Gedanken des Demokrit wiedergibt, heißt es dazu:

Deshalb war die Bewegung, die jetzt in den Urelernenten herrscht, schon von jeher da, und so wird sie auch künftig noch da sein.
...
Denn kein Platz ist vorhanden ... von wo aus erneuerte Kräfte brächen herein, die Natur und Bewegung der Dinge zu ändern.

Für die Mechanik war im 18. Jahrhundert der Satz von der Erhaltung der mechanischen Energie bereits gesicherter Besitz: Zustands- oder potentielle Energie und kinetische oder Bewegungsenergie zusammengenommen bleiben für jeden Vorgang (z. B. bei der Pendelschwingung) konstant. Viele Namen wären aus dieser Entwicklung zu nennen: Galilei, Huygens, Torricelli, Daniel Bernoulli, vor allem aber Leibniz. Dieser - und nach ihm Kant - gab dem Satz bereits eine viel allgemeinere Fassung. Er spricht von Erhaltung der Kraft. Es dauerte trotzdem noch 100 Jahre, bis das, was hier als philosophische Erkenntnis schon ausgesprochen war, als klares und quantitativ gefaßtes Prinzip von der Physik aufgenommen wurde. Woher diese, wie es heute scheinen mag, außergewöhnliche Verzögerung? Sie liegt hauptsächlich in der Schwierigkeit, die Energie das was wirkt, aber außer an dieser Wirkung nicht zu greifen ist - quantitativ zu fassen. So nahe es lag, das in der Mechanik bereits klar Erkannte auf andere Zweige der Physik zu übertragen - im Wege stand, daß das, uni das es hier ging, weder Gewicht noch Trägheit besaß oder jedenfalls zu besitzen schien.

Auch die Geschichte der Thermometrie gehört in die Vorgeschichte des Erhaltungssatzes. Neben der mechanischen Energie war es die Wärme, an der sich die allgemeinere Fassung des Gesetzes zunächst vollzog. Zu den Wegbereitern in dieser Beziehung gehören außer den schon genannten noch drei Forscher des 19. Jahrhunderts:

Sir Humphrey Davy (vgl. S. 481) überzeugte sich durch eigene Experimente von der Richtigkeit des bereits von Rumford ausgesprochenen Satzes, daß Wärme gleich Bewegung ist. Der bedeutende französische Mathematiker J. B. J. Fourier (1758-1830) gab in seiner Analytischen Theorie der Wärme von 1822 die Grundlagen für eine mathematische Behandlung von Wärmeerscheinungen. Der Sohn des S. 452 genannten Lazare Carnot, Sadi Nicolas Leonard Carnot (1796-1832) stellte, hauptsächlich angeregt durch die Dampfmaschine, Betrachtungen Über die bewegende Kraft des Feuers an (1824). Darin brachte er bereits die Wärme in Beziehung zur mechanischen Arbeit. Mißt man Carnots Anteil nur an dieser Schrift, so gehört er nur zu den Wegbereitern des Erhaltungsgesetzes, denn er hat sich hier von der Vorstellung des "Wärmestoffs" noch nicht frei gemacht. Lange nach seinem Tode aber, im Jahre 1878, wurden der Öffentlichkeit Aufzeichnungen Carnots zugänglich, die der früh Verstorbene nicht mehr selbst hatte veröffentlichen können. Nach diesen Aufzeichnungen gebührt Carnot für unseren Zusammenhang etwa die gleiche Stellung wie Gauss für die nichteuklidische Geometrie. Er hatte die wesentliche Erkenntnis der nach ihm Kommenden vorweggenommen und auch bereits einen annähernd richtigen Wert für das gleich zu erläuternde "mechanische Wärmeäquivalent" angegeben.

b) Mayer, Colding, Joule, Helmholtz

Wenden wir uns jetzt zu der eigentlichen Formulierung des Gesetzes, auf die Carnots Gedanken keinen Einfluß hatten. Auch hier gebührt das Verdienst nicht einem Manne allein. Mindestens vier Namen müssen genannt werden. Unter diesen gebührt allerdings einem die erste Stelle: Julius Robert Mayer (1814 bis 1878).
Mayer war nicht Physiker, sondern Arzt. Er lebte, nach Studienjahren in Tübingen und Reisen durch Europa sowie (als Schiffsarzt) nach Ostindien, als Junger Arzt in seiner Vaterstadt Heilbronn, als er 1842 in Liebigs und Wöhlers "Annalen der Chemie und Pharmazie" eine Abhandlung Bemerkungen Über die Kräfte der unbelebten Natur veröffentlichte. Diese Arbeit ist es, die Mayer die Priorität der Entdeckung sichert. Sie enthält, freilich mit unzureichender Begründung und in laienhafter Sprache, welche Mayer nicht das Gehör, geschweige denn die Zustimmung der Fachwelt verschaffen konnte, bereits die Grundgedanken: Äquivalenz von Wärme und Energie; Berechnung des quantitativen Verhältnisses, in dem beide ineinander überzuführen sind (das mechanische Wärmeäquivalent); Ausdehnung des Satzes zu einem allgemeinen Gesetze von der Erhaltung der Energie. Mayer war dabei nicht von physikalischen Beobachtungen, sondern von physiologischen Problemen und Erwägungen ausgegangen. In späteren Schriften gab er seiner These eine exaktere wissenschaftliche Begründung.

Sehen wir ab von philosophischen Erwägungen (die für Mayer eine große Rolle spielen), so ist der praktische Ansatzpunkt seiner Überlegungen hier die Dampfmaschine. Dabei kommt es ihm nicht so sehr darauf an, eine eigentliche Erklärung für den Umwandlungsvorgang von Wärme in mechanische Arbeit zu geben. Er will vor allem das mengenmäßige Verhältnis zwischen beiden Energiearten bestimmen. Er stützt sich im wesentlichen nicht auf eigene Versuche, sondern auf richtungweisende Experimente französischer Physiker, namentlich des Joseph Louis Gay-Lussac (1778-1850) über die Erwärmung von Gasen. Mayer kommt zu dem Zahlenwert 365 - d. h., die Temperaturerhöhung von 1 Gramm Wasser uni 1 Grad Celsius ist äquivalent der mechanischen Arbeit, die 1 Gramm Materie um 365 Meter auf der Erde in die Höhe hebt. Der Wert war um etwa 10% zu gering. Er beträgt in Wahrheit 426. Doch kann dieser Fehler kaum die Leistung Mayers beeinträchtigen.

Mayer dehnt nun das Prinzip der Umwandelbarkeit der Energie bei Erhaltung ihrer Menge über diesen besonderen Fall hinaus auf die Erscheinungen der Reibungselektrizität, auf viele andere chemische und elektrische Vorgänge, weiter auf physiologische Prozesse im lebenden Organismus und auch auf die Astronomie. In Mayers eigenen Worten (aus zwei Briefen an einen Freund):

Bewegung verwandelt sich in Wärme. in diesen fünf Worten hast Du implicite meine ganze Theorie ... Meine Behauptung ist ...: Fallkraft, Bewegung, Wärme, Licht, Elektrizität und chemische Differenz der Ponderabilien sind ein- und dasselbe Objekt in verschiedenen Erscheinungsformen. 16

Spätere Gedanken Mayers kreisten uni das wichtige Prinzip der "Auslösung", das eine wesentliche Ergänzung des allgemeinen Energiesatzes bildet. Der Erhaltungssatz ist im Grunde eine genaue quantitative Fassung des alten Erfahrungssatzes: "Die Wirkung entspricht der Ursache", (causa aequat effectum); er kann in gerader Linie aus dem Kausalprinzip selbst hergeleitet werden. Diesem gegenüber steht der wahrscheinlich genau so alte Erfahrungssatz "Kleine Ursachen - große Wirkungen". Der von Mayer zuerst erfaßte und auf die verschiedensten Gebiete des Naturgeschehens angewandte Begriff der Auslösung besagt: Es gibt Vorgänge, bei denen latente, schlummernde Energiemengen in Bewegung gesetzt werden durch einen Anstoß, dessen Energie im Verhältnis zu der des Gesamtvorganges äußerst gering ist. Der Begriff ist von großer Bedeutung für die Chemie (z. B. bei der Katalyse), für die Physiologie und für die Technik.

Die Leistung Mayers wurde lange Zeit verkannt. Mangelnde Anerkennung und Anfeindungen verdüsterten sein Leben. Erst 1862 brachte das Eintreter des englischen Physikers John Tyndall für Mayer eine Wende.

Der dänische Ingenieur Ludwig August Colding (1815-1888) kam von metaphysischen Überlegungen aus 1843 zu einer allgemeinen Formulierung des Erhaltungsgesetzes und erhielt aus einer Reihe von Versuchen für das mechanische Wärmeäquivalent fast den gleichen Wert wie Mayer.

Der eigentliche Rivale Mayers, dessen Erfolg zunächst das Verdienst Mayers überschattete, war jedoch der Engländer James Prescott Joule (1818-1889). Joule arbeitete unabhängig von Mayer. Im Unterschied zu diesem war er ein genauer und geschickter Experimentator, der sich auf eine lange Reihe stetig verfeinerter eigener Versuche stützen konnte. Er gab die Zahl für das mechanische Wärmeäquivalent wesentlich genauer als Mayer und kam dem heute bekannten genauesten Wert sehr nahe.

Der vierte in dieser Reihe ist Hermann von Helmholtz (1821-1894), Mediziner wie Mayer, einer der wahrhaft universalen Gelehrten des Jahrhunderts, mit seiner 1847 erschienenen Schrift über die Erhaltung der Kraft. Obwohl diese fünf Jahre nach Mayers erster Schrift erschien, war Helmholtz - wie Joule im wesentlichen selbständig zu seinen Schlußfolgerungen gekommen. Helmholtz zeigte seinen Zeitgenossen die weitreichende Bedeutung des neuen Prinzips, seine Anwendbarkeit für die verschiedensten Zweige der Wissensdiaft; er gab ihm eine exakte Formulierung.

Ein abgeschlossenes System behält seine Gesamtenergie unverändert, gleichgültig, welche Veränderung die einzelnen Energiebestandteile des Systems (mechanische, kalorische, elektrische, strahlende und chemische Energie) erleiden. 17

Eine allgemeine Würdigung des Gesetzes und eine Geschichte seiner Auswirkungen in der Physik und den übrigen Naturwissenschaften ist wiederum ein unerschöpfliches Thema. Auch hierzu einige Andeutungen:

Der Energiesatz ist vielleicht derjenige Satz der neuzeitlichen Naturwissenschaft, der in den meisten Einzeldisziplinen angewendet wird. 18

In der Tat: selbst eine oberflächliche Überlegung lehrt erkennen, daß der Satz nicht nur für alle Zweige der Physik grundlegend ist, ja daß er die Einheit der verschiedenen Zweige dieser Wissensdiaft erst begründet; daß er ebenso in Chemie, Physiologie, Astronomie, Biologie und allen deren Einzelzweigen wie etwa Meteorologie oder auch in der Technik eine entscheidende Rolle spielen muß. Das schon mehrfach zitierte Sammelwerk 19 gibt einen guten Einblick in die Ausstrahlungen des Gesetzes auf alle diese Felder.

Die Entdeckung des Energiesatzes ist ohne Zweifel die wichtigste und folgenreichste aller naturwissenschaftlichen Entdeckungen überhaupt gewesen. Sie hat nicht nur sämtliche Gebiete der Forschung und erst recht die gesamte Technik entscheidend beeinflußt, sie hat auch in naturphilosophischer Hinsicht, wie gleichfalls J. Mayer erkannt hat, sidi als einer der allerwichtigsten Erkenntnisfortschritte erwiesen. 20

Der Energiesatz führt zum Gedanken der Einheit aller Naturkräfte. jeder Versuch, in wissenschaftlicher Weise Aussagen über den Weltprozeß als Ganzes zu machen, stößt auf den Erhaltungssatz als einen der wenigen, von denen wir voraussetzen dürfen, daß sie eine universale Geltung besitzen. Der Satz gehört zu den am festesten begründeten Pfeilern unseres wissenschaftlichen Weltbildes. Woher ihm diese Geltung zukommt, ob er ein echter Erfahrungssatz ist - solche Fragen eröffnen ein weites Feld erkenntnistheoretischer und philosophischer Überlegung.

Wie schnell der Satz ins allgemeine Bewußtsein drang, dafür mag Wilhelm Busch zeugen:

Hier strotzt die Backe voller Saft, 
da hängt die Hand, gefüllt mit Kraft. 
Die Kraft, infolge der Erregung,
verwandelt sich in Schwingbewegung.

Bewegung, die in schnellem Blitze 
zur Backe eilt, wird hier zur Hitze. 
Ohrfeige heißt man diese Handlung, 
der Forscher nennt es Kraftverwandlung.

c) Entropie

Der Erhaltungssatz wird, ungeachtet seiner weiterreichenden Bedeutung, wegen des Feldes seiner Entstehung als "Erster Hauptsatz der Thermodynamik" bezeichnet. Als zweiter Hauptsatz steht an seiner Seite das sogenannte Entropieprinzip. Der erste Hauptsatz ist im Grunde identisch mit der Feststellung: Es gibt kein perpetuum mobile -genauer: kein perpetuum mobile "erster Art", keine Maschine also, in der Energie aus dem Nichts gewonnen wird; keine Maschine, die beständig Arbeit leisten kann, ohne daß ihr Energie zugeführt wird. Der Energiesatz schließt das schlechthin aus. Nicht ausgeschlossen durch den ersten Hauptsatz allein wird ein sogenanntes perpetuum mobile zweiter Art. So nennt man eine Maschine, die zwar nicht Arbeit aus dem Nichts erzeugt, die aber einen vollkommenen Energiekreislauf bewirkt: Umwandlung einer Form von Energie in die andere und restlose Rückverwandlung in die vorherige Form. Ein solcher Apparat würde zwar keine Arbeit leisten, aber sich selbst in Bewegung halten und ohne Ende weiterlaufen können. Daß auch ein solches perpetuum mobile nicht ausführbar ist - das sagt im Grunde schon der Instinkt; obwohl es bis in die neueste Zeit Erfinder gegeben hat, die eines zu konstruieren versuchten. In exakter Form spricht es der zweite Hauptsatz oder Entropiesatz aus.

Was ist Entropie? Wörtlich heißt es etwa "Innenwendung". Gemeint ist die Tatsache, daß Arbeit zwar beliebig in Wärme umgewandelt werden kann, daß aber Wärme niemals restlos in Arbeit zurückverwandelt werden kann. Da dieser Satz eine genau so umfassende Bedeutung hat wie das Erhaltungsprinzip, müßte eine genauere entwicklungsgeschichtliche Betrachtung wiederum auf einen großen Teil der gesamten Wissenschaftsgeschichte zurückgreifen.

Auch bei der Formulierung dieses Prinzips sind mehrere Männer beteiligt gewesen. Zu nennen sind vor allem Sadi Carnot (S. 470), der den Satz, ausgehend von der Dampfmaschine, mindestens intuitiv schon erfaßte. Eine genauere Formulierung gab Rudolf Emanuel Clausius (1822-1888) im Jahre 1850: Wärme kann nicht von selbst von einem kälteren in einen wärmeren Körper übergehen. Thomson (Lord Kelvin) dehnte den Gültigkeitsbereich des Satzes wenige Jahre später auf den ganzen Kosmos aus.

Die beiden Hauptsätze ergänzen einander. Der Energiesatz bietet einen sehr weiten und allgemeinen Rahmen. Er stellt fest, was in der Natur keinesfalls geschehen kann; aber er sagt inhaltlich noch kaum etwas darüber aus, was tatsächlich geschieht, welche Vorgänge wirklich ablaufen und wie sie ablaufen. Mit dem allgemeinen Erhaltungsprinzip sind beliebig viele Abläufe verträglich. Hier greift das Entropieprinzip ein. Die Verbindung beider erlaubt eine Fülle konkreter Aussagen. Das Entropieprinzip gibt den Naturvorgängen Einsinnigkeit und Nichtumkehrbarkeit: bei jedem energetischen Umwandlungsprozeß geht durch Zerstreuung ein Teil der dabei auftretenden Wärme verloren und kann auf keine Weise wiedergewonnen werden.

Dehnt man den Geltungsbereich des Satzes von einem abgeschlossenen System auf die Welt im ganzen aus, so ergibt sich als unausweichliche Konsequenz die Behauptung: Die in der Welt vorhandene freie Energie nimmt infolge des Entropiegesetzes ständig und unwiederbringlich ab. Die Welt geht dem Schicksal des "Wärmetodes" entgegen. Ob dieser weittragende Schluß berechtigt ist, ist umstritten.

Erhaltungssatz und Entropiesatz gelten als die unverbrüchlichsten und fundamentalsten aller Naturgesetze. Ihre Entdeckung ist ein Triumph der physikalischen Wissenschaft. ihre Bedeutung für die praktische Naturbeherrschung wie für das philosophische Denken ist außerordentlich.

2. Die kinetische Gastheorie

Kreisen die eben behandelten beiden Sätze um das Thema "Wärme und Bewegung" oder haben doch von ihm ihren Ausgang genommen, so heißt das Stichwort für diesen Abschnitt: "'Wärme als Bewegung". Es handelt sich um den zunächst als Hypothese aufgestellten Satz: Wärme ist Bewegung, und zwar Bewegung der kleinsten Teilchen der Materie. Wenn wir ein beliebiges Stück Materie berühren und die Empfindung "warm" oder "sehr heiß" haben, so beruht diese Empfindung darauf, daß die sich bewegenden kleinsten Teilchen dieses Stoffes gegen unsere Haut stoßen. Genauer - da auch unsere Haut und unsere Nerven aus solchen kleinsten Teilchen bestehen, die sich bewegen: Wenn die (durchschnittliche) Bewegungsenergie der kleinsten Teilchen der von uns berührten Materie größer ist als die Bewegungsenergie der kleinsten Teilchen der Haut, so empfinden wir das und nennen es "Wärme". Und je größer diese durchschnittliche Energie, um so "wärmer" ist ein Körper.

Dies bezieht sich nun allerdings auf jede Art von Materie in jedem Zustand, also auch auf feste Körper und auf Flüssigkeiten. Die genannte Hypothese gilt für diese alle und wird daher allgemeiner "kinetische Wärmetheorie" genannt. Doch wurde die Theorie zuerst für Gase entwickelt, weil diese für das Studium solcher Erscheinungen die günstigsten Voraussetzungen und die einfachsten Verhältnisse darbieten.

Damit diese Theorie etwa von der Mitte des Jahrhunderts ab ausgebildet werden konnte, mußte eine ganze Reihe von Voraussetzungen geschaffen sein, zum Teil innerhalb der Physik, zum Teil außerhalb ihrer. Innerhalb der Physik war vorausgegangen das Studium der Gase, wie es im vorigen Kapitel geschildert wurde; weiter die Forschungen Rumfords (S. 363) und anderer, welche die Erklärung der Wärme als Bewegung nahelegten; weiter die Entwicklung der Thermodynamik und allgemeinen Energielehre, die wir soeben verfolgt haben. Die gegenseitige Umwandelbarkeit von Wärme und Bewegung legte den Gedanken recht nahe, Wärme selbst als "eine Art Bewegung" zu verstehen. Endlich mußte auch die ganze jahrhundertlange Entwicklung der Mechanik, insbesondere die Erforschung und mathematische Durchdringung der Bewegungsvorgänge, vorausgegangen sein, die nun hier auch mit der Wärmelehre zusammenzufließen begann.

Zwei unerläßliche Vorbedingungen kamen von außerhalb der Physik. Die Mathematiker steuerten die jedenfalls für die eigentliche Durchbildung der

S.474 unten; wird fortgesetzt

 

 

 

 William Herschel: On the Proper Motion of the Sun and Solar System; Zit. nach Zinner: Astronomie, S. 240 

 

 

 

 

Autor: Hans Joachim Störig
Titel: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft
Kurzbeschreibung:
Verlag Verlag W. Kohlhammer GmbH Stuttgart 1954
ISBN-Nummer: -keine- vergriffen

 

Literatur und Bearbeitung
Bearbeitung (www): Klaus-G. Häusler

© 2002 HMTC - Halbmikrotechnik Chemie;
Klaus-G. Häusler; haeusler[at]muenster[dot]de
uiw/fach/matnatlex/literatur/inhalt/stoerig467.htm 26.11.03