Hans Joachim Störig stoerig239.htm 09.07.2011 |
Hans Joachim Störig: Ausschnitte aus dem Buch: "Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft"
Inhaltsverzeichnis
Kap.9 III. PHYSIK UND CHEMIE
Ausschnitte aus dem Buch: "Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft" (S.239 - 247)
III. PHYSIK UND CHEMIE
Später als Mathematik und Astronomie erwachte die Physik zu neuem Leben. Während Kopernikus sein neues Weltsystem erdachte und die großen Entdecker über die Weltmeere fuhren, regte sich in ihr noch nichts. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts und in das 17. hinein liegt die Wirksamkeit der drei Männer, die an der Schwelle der neuzeitlichen Physik stehen: ein Engländer, ein Holländer, ein Italiener.
Im Jahre 1600 erschien De magnete magneticisque corporibus et de magno magnete tellure - Über den Magneten, die magnetischen Körper und den großen Magneten Erde des Engländers William Gilbert (1540-1603). Gilbert machte zwei wesentliche Schritte über Peter Peregrinus (S. 183) hinaus.
Wie der Titel anzeigt, hat er die Erde selbst als Magneten erkannt. Er stellt fest, daß die Erde zwei magnetische Pole hat, die in der Nähe der geographischen Pole liegen, aber nicht mit diesen zusammenfallen, und daß die Kompaßnadel zu diesen Polen weist und nicht, wie man geglaubt hatte, zu dem sagenhaften Magnetberg im hohen Norden. Gilbert gibt die Anweisung, wie man mit einem kleinen kugelförmigen Magneten diese Verhältnisse selbst auf experimentellem Wege nachprüfen kann:
Man nehme einen Magnetstein [Fe3O4 - ein kristallines Eisenoxyd; Gilbert kannte natürlich auch den durch Magnetisierung künstlich hergestellten Magneten] und gebe ihm durch Abschleifen die Form eines Balles. Dann, um die Pole zu finden, die den Polen der Erde entsprechen, nimm den runden Stein in deine Hand und lege auf ihn eine Nadel oder ein Stück Eisendraht: Die Enden des Drahtes bewegen sich um ihren Mittelpunkt und kommen plötzlich zum Stehen. Nun markiere mit Ocker oder Kreide, wo der Draht stilliegt und haftet. Dann bewege den Mittelpunkt oder das Zentrum des Drahtes zu einer anderen Stelle, und so ein drittes und viertes Mal, immer den Magnetstein längs des Drahtes markierend, wo dieser stillsteht: Die so markierten Linien werden Meridiankreise darstellen, oder Kreise gleich Meridianen auf dem Stein oder der Terella [Erdlein, kleine Erde nennt Gilbert seinen Stein] und offensichtlich werden sie alle an den Polen des Steins zusammenlaufen .
Gilberts Methode ist rein experimentell. Er verfährt so, wie es Roger Bacon gefordert hatte und wie es sein Zeitgenosse und Landsmann Francis Bacon fordert; aber bei ihm ist kein Überrest des Haftens an antiken Autoren und mittelalterlichen Vorurteilen. Er zitiert die Alten, aber nur, um sie zu widerlegen.
Zum zweiten erwähnt Gilbert die Elektrizität und beschreibt eine Reihe entsprechender Experimente. Während den Untersuchungen über den Magnetismus im Zeitalter der Entdeckungen eine große praktische Bedeutung zukam, hatte Gilbert für die von ihm entdeckten elektrischen Erscheinungen zunächst keine praktische Anwendung. Die schon den Griechen bekannte Tatsache, daß geriebener Bernstein (griech. Elektron) anziehend wirkt, schien Gilbert etwas dem Magnetismus Verwandtes. Gilbert stellte eine Art Elektroskop her, eine Metallnadel, die sich auf einem Zapfen drehte und das Vorhandensein von Elektrizität anzeigte. Er prüfte eine Reihe von Stoffen auf ihre Fähigkeit, gleich dem Bernstein durch Reibung anziehende Kraft zu erlangen. Er fand, daß manche Stoffe wie Glas und Harz diese Fähigkeit besitzen, andere, die Metalle, dagegen nicht. Gilbert erkannte nicht, daß die letzteren Stoffe für die Elektrizität als Leiter wirken, das heißt die Elektrizität fast ungehindert durchfließen lassen und nicht speichern.
Stevin
Simon Stevin (1548-1620), ein holländischer Militäringenieur, lebte ungefähr gleichzeitig mit Gilbert, begann aber schon vor dessen Werk über den Magneten mit seinen Veröffentlichungen.
Stevin war es, nicht Galilei, der als erster im Jahre 1586 die seit Aristoteles festgehaltene Ansicht, die Körper fielen entsprechend ihrem Gewicht mit verschiedenen Geschwindigkeiten, durch das Experiment widerlegte:
Das Experiment gegen Aristoteles ist dies: Laßt uns ... zwei bleierne Kugeln nehmen, eine zehnmal größer an Gewicht als die andere, welche wir zusammen fallen lassen aus einer Höhe von fünfzig Fuß auf ein Brett oder sonst etwas, das einen deutlichen Schall gibt, und es wird sich zeigen, daß die leichtere nicht zehnmal länger braucht, um zu fallen, als die schwerere, sondern daß sie zugleich auf
das Brett fallen, daß beide Geräusche als eine einzige Schallwahrnehmung erscheinen.
Stevin begründete die moderne Statik - wie Galilei die Dynamik - und auch die Hydrostatik. Eines der wichtigsten der von ihm erstmals gefundenen Gesetze ist das Parallelogramm der Kräfte. In der Regel wirken in der Natur immer mehrere Kräfte gleichzeitig auf einen Körper ein. Hantieren wir mit irgendwelchen Körpern oder lassen eine mechanische Kraft auf sie einwirken, so sind außer dieser Kraft in der Regel mindestens noch die Schwerkraft vorhanden und der Widerstand des Mittels
Wasser oder Luft oder was es sei - in dem sich der Körper bewegt. Wie kann man das Ergebnis gleichzeitiger Einwirkung mehrerer Kräfte auf denselben Körper mathematisch bestimmen? Stevin fand, ohne eigentliches Experimentieren, mit einer Mischung aus vorher experimentell erworbenem Wissen, Intuition und mathematischem Schließen die Antwort, die heute Jedem geläufig ist. Wirken zwei Kräfte in verschiedener Richtung auf einen Körper, so ist die entstehende Wirkung so, als ob eine einzige Kraft auf den Körper einwirkte. Diese Resultante findet man zeichnerisch, indem man die beiden Kräfte in ihren Richtungen aufzeichnet und die Länge der beiden Strahlen der Stärke der Kräfte entsprechen läßt. Vervollständigt man die beiden Linien zu einem Parallelogramm, so bezeichnet dessen Diagonale die Richtung und die Stärke der resultierenden Kraft.
Andere statische Gesetze Stevins beziehen sich auf die schiefe Ebene und auf das Verhältnis von Kraft und Weg bei Hebel, Rolle und ähnlichen einfachen Maschinen (Grundsatz der virtuellen Verschiebung).
Für die Hydrostatik waren grundlegend Stevins Untersuchungen über die Druckverhältnisse im Inneren einer Flüssigkeitsmenge. Stevin formulierte und bewies den Satz, daß eine Flüssigkeit in kommunizierenden Röhren ohne Rücksicht auf deren Form und Durchmesser stets zur gleichen Höhe steigt. Er formulierte das sogenannte hydrostatische Paradoxon. Es besagt, daß der Druck in einem beliebigen Punkt innerhalb einer Flüssigkeit allein von der Höhe der über diesem Punkt stehenden Flüssigkeitssäule abhängt. Dieser Satz liegt der Konstruktion hydraulischer Bremsen und ähnlicher hydraulischer Apparate zugrunde.
In der Hydrostatik knüpfte Stevin an Archimedes an. Stevin ist es, neben Leonardo und Galilei, der den "archimedischen Geist" für die moderne Wissenschaft wieder belebt und fruchtbar gemacht hat.
Galilei
Wir haben Galileis astronomische Arbeiten und seinen Kampf für das kopernikanische System bereits im vorhergehenden Abschnitt des Zusammenhangs und unserer durchgehenden Einteilung wegen vorweggenommen. Nun müssen wir uns seiner Gestalt, einer der mächtigsten in der gesamten Geschichte des menschlichen Wissens, neuerdings zuwenden, um seine Leistung für die Physik und sein Gesamtwerk etwas eingehender zu betrachten.
Galileo Galilei stammte aus Pisa. Hier wurde er 1564 geboren als Sohn eines verarmten Edelmannes, der sich mit Mathematik und Musiklehre beschäftigte. Vom Vater bekam er möglicherweise schon den Geist eingeimpft, der sein eigenes Werk durchdringt: denn der Vater Galilei schrieb in einem 1581 erschienenen musiktheoretischen Buche:
Nach meiner Ansicht müssen diejenigen, welche, um eine Behauptung zu beweisen, ausschließlich auf das Gewicht der Autoritäten zählen, ohne sich anderer Argumente zu bedienen, des Unverstandes geziehen werden. Ich für meinen Teil wünsche, daß die Streitfragen frei gestellt und ohne irgendwelche Speichelleckerei frei erörtert werden, wie sich dies für jeden geziemt, der aufrichtig nach der Wahrheit forscht.
In Pisa begann Galilei auch zu studiere, zunächst Medizin, wechselte aber bald zur Mathematik und den Naturwissenschaften. Mit 25 Jahren war er durch Vorlesungen , di er auf eigene Faust begann, bereits so berühmt, daß er als Professor der Mathematik an die Universität berufen wurde. Daß er sich vor keiner Autorität beugte und gegen Widersacher scharf und mit viel Spott zu Felde zog, machte ihn hier bald unbeliebt. Nach zwei Jahren verließ er Pisa und wurde Professor der Mathematik an der venezianischen Universität Padua.
Sein Ruhm verbreitete sich rasch und drang über die Grenzen. Der junge Kepler sandte ihm sein Erstlingswerk. Galilei antwortete mit anerkennenden Worten und betonte, er sei glücklich, "einen so großen Bundesgenossen und gleichen Freund der Wahrheit zu besitzen." Bei dieser Gelegenheit schrieb er auch, er sei schon lange Anhänger des Kopernikus, habe aber bisher wegen des Widerstandes, den dessen Werk erregte, sich zurückgehalten.
Galileis weiteres Lebensschicksal haben wir schon verfolgt. Seine wichtigsten Schriften:. Über den Kompaß, Padua 1606. Sidereus Nuncius, Venedig 1610. Über Sonnenflecken, 1613. Il Saggiatore (Der Probierer), Rom 1623. Dialog über die beiden wichtigsten Weltsysteme, Florenz 1623. Mathematische Demonstrationen zweier neuer Wissenschaften (hierin die Fallgesetze), Leyden 1638. Von der Mechanik, Ravenna 1649. Dies ist eine Auswahl. Zahlreiche kleinere Arbeiten Galileis wurden erst bekannt, als man daranging, sein Werk gesammelt herauszugeben. Die vollständigste Ausgabe ist die italienische Edizione Nazionale mit 21 Bänden.
Galilei gilt als Begründer der wissenschaftlichen Mechanik, welche den Grund aller weiteren physikalischen Entwicklung legte. So groß seine Leistung, er ist doch auf diesem Felde nicht ohne Vorläufer. Eine Reihe von Gelehrten, die im 14. Jahrhundert in Paris wirkten, und der Philosophie Occams anhingen, hatte wichtige Vorarbeit im Studium der Bewegung und des Falls von Körpern geleistet. Jean Buridan hatte den Begriff der Tätigkeit formuliert und den Fall als gleichförmig beschleunigte Bewegung erklärt. Albert von Sachsen hatte ebenfalls die Fallgesetze zu formulieren gesucht. Nicolaus von Oresme (S. 181) hatte sich um die mathematische Erfassung der gleichförmig beschleunigten Bewegung bemüht. Daß zwischen diesen Männern und dem Werk Galileis, das sie fortsetzte und krönte, zwei Jahrhunderte liegen, zeigt, wie die humanistische Geistesströmung die Aufmerksamkeit für längere Zeit von der Naturwissenschaft weg auf die antike Literatur gezogen hatte. Freilich hatten auch im 14. Jahrhundert Wirtschaft und Technik noch nicht den Stand erreicht, der im 16. Jahrhundert die Neubegründung der Naturwissenschaft ermöglichte und erzwang.
Technische Entwicklungen, die neues mathematisches und physikalisches Rüstzeug zu ihrer Bewältigung erforderten, lagen in dem Aufschwung der Seefahrt und den Fortschritten der Astronomie. Sie lagen aber auch in den mit Aufkommen der Feuerwaffen einsetzenden Problemen der Waffentechnik und des Befestigungswesens. Tartaglia (S. 226) war nicht der einzige, der die Ballistik als Feld der angewandten Mathematik behandelte. Galilei selbst verlegt den Anfang einer seiner Schriften bezeichnenderweise in das Arsenal von Venedig.
Meine Absicht ist, eine sehr neue Wissenschaft von einem sehr alten Gegenstände zu bringen. In der Natur ist vielleicht nichts älter als die Bewegung, und die Bücher, welche von Philosophen darüber geschrieben sind, sind weder wenig noch klein an Umfang; nichtsdestoweniger habe ich durch Experiment einige ihrer Eigenschaften entdeckt, welche wissenswert sind und welche bisher weder beobachtet noch demonstriert worden sind. Einige oberflächliche Beobachtungen sind gemacht worden, wie zum Beispiel, daß die freie Bewegung eines schweren fallenden Körpers beständig beschleunigt wird; aber eben in welchem Maße diese Beschleunigung stattfindet, ist noch nicht mitgeteilt worden; denn soviel ich weiß, hat noch niemand auseinandergesetzt, daß die Entfernungen, die in gleichen Zeitintervallen durch einen aus dem Ruhestand fallenden Körper zurückgelegt werden, zu einander im gleichen Verhältnis stehen wie die ungeraden Zahlen, beginnend mit der Einheit. Es ist beobachtet worden, daß Wurfgeschosse und Projektile einen gekrümmten Weg irgendeiner Art beschreiben; jedoch niemand hat die Tatsache aufgezeigt, daß dieser Weg eine Parabel ist. Aber dieses und andere Tatsachen, nicht gering an Zahl oder weniger wissenswert, ist es mir gelungen zu beweisen; und was ich als wichtiger ansehe, es sind für die ausgedehnte und ausgezeichnete Wissenschaft, von der mein Werk nur den Anfang bildet, neue Wege und Mittel eröffnet worden, durch welche andere Geister, schärfer als der meine, ihre entfernteren Bereiche erforschen werden .
Zwei aristotelische Vorurteile mußte Galilei zunächst aus dem Wege räumen, um seine neue Wissenschaft von der Bewegung, die Dynamik, zu begründen. Das eine war die Ansicht, die Körper fielen entsprechend ihrem Gewicht mit verschiedener Geschwindigkeit. Wir haben gesehen, daß Stevin dies bereits durch Experiment widerlegt hatte. Galilei tat das gleiche - wie überliefert ist, von dem berühmten schiefen Turm seiner Heimatstadt. Das andere Vorurteil war die Ansicht, um einen Körper in Bewegung zu halten, sei beständige Zufuhr von Kraft nötig. Galilei setzte an seine Stelle den Satz: Ein Körper verharrt bei Abwesenheit von Reibungen und sonstigen Hemmnissen ohne Aufhören in der ihm einmal erteilten Bewegung. Dieser Satz konnte natürlich streng genommen nicht experimentell bewiesen werden, denn niemand vermag die dazu notwendigen Versuchsbedingungen herzustellen; doch konnte Galilei experimentell zeigen, daß die Bewegung um so länger fortgesetzt wird, je vollständiger man die Hemmnisse aus dem Wege räumt.
Galilei wußte, daß die Körper gleich schnell fallen und daß sie mit gleichmäßiger Beschleunigung fallen. Aber wie schnell fallen sie? Da es noch kein Instrument gab, die bei Fallexperimenten auftretenden ganz kurzen Zeiträume zu messen, verlangsamte Galilei die Bewegungen, indem er statt des freien Falls die Bewegungen von Kugeln untersuchte, die eine schiefe Ebene herabrollen.
In ein Stück Holz, etwa zehn Meter lang, einen halben Meter breit und drei Zoll dick, machten wir auf der Schmalseite eine Rille, etwas mehr als einen Zoll weit ... Wir machten sie sehr glatt ... und in ihr ließen wir eine Metallkugel, sehr hart, rund und glatt, herablaufen. Nachdem wir das genannte Brett schräg gelegt hatten, indem wir eines seiner Enden etwa ein oder zwei Meter oberhalb der Waagerechten legten, ließen wir den Ball die Rille hinablaufen und beobachteten in der sogleich zu beschreibenden Weise die Zeit, welche er brauchte, um herunterzulaufen, indem wir dieselbe Beobachtung immer von neuem wiederholten, um uns der Zeit zu vergewissern, in welcher wir niemals die geringste Differenz fanden, auch nicht um den zehnten Teil eines Pulsschlages ... (Dann) ließen wir die gleiche Kugel nur den vierten Teil der Länge jener Rille hinablaufen, und als wir die Zeit maßen, fanden wir sie stets genau die Hälfte der ersteren. Und dann machten wir Versuche mit anderen Längen ... Und was das Messen der Zeit anbetrifft: Wir hatten einen ansehnlichen Eimer Wasser hoch aufgehängt, aus welchem durch ein kleines Loch im Boden ein dünner Wasserfaden drang, welchen wir in einem kleinen Gefäß auffingen, solange der Ball die Rille hinablief bzw. ihre Teile: Von Zeit zu Zeit wogen wir die kleinen Wassermengen, die wir auf diese Weise sammelten, auf sehr genauen Waagschalen; die Unterschiede und Verhältnisse ihrer Gewichte gaben genau die Unterschiede und Verhältnisse der Zeiten; und dies mit solcher Genauigkeit, daß ... so oft wir die Versuche wiederholten, sie niemals voneinander abwichen .
Die Kenntnis der Fallgesetze setzte Galilei in den Stand, die Bahn eines abgefeuerten Geschosses zu berechnen. Er setzte den Fall, ein Geschoß werde von einer Klippe in waagerechter Richtung auf das Meer hinaus gefeuert. Während das Geschoß seine geradlinige waagerechte Bewegung fortzusetzen strebt, wirkt die Schwerkraft ein. In jedem Zeitintervall legt es die gleiche horizontale Distanz zurück, erfährt aber zugleich eine gleichmäßig zunehmende Beschleunigung nach unten. Die resultierende Kurve ist eine Parabel - oder sie wäre es, wenn man den Luftwiderstand nicht zu berücksichtigen brauchte. Über dessen Rolle war sich Galilei klar, vermochte ihn aber nicht zu berechnen. Die von den Mathematikern schon so lange vorher ausgebildete Lehre von den Kegelschnitten fand nun neben den Planetengesetzen Keplers hier eine zweite Anwendung auf die Praxis.
b) Andere physikalische Arbeiten
In der Hydrostatik stürzte Galilei eine andere irrtümliche Annahme der aristotelischen Schule um. Diese behauptete, ob ein Körper im Wasser schwimme, hänge von seiner Gestalt ab. Galilei ließ eine wächserne Kugel in ein mit Wasser gefülltes Gefäß sinken. Durch Zusetzen von Salz erhöhte er die Dichte der Flüssigkeit bis zu dem Punkte, da die Wachskugel sich vom Boden erhob und schließlich schwamm. Damit war bewiesen, daß die Schwimmfähigkeit von Körpern von ihrer relativen Dichte in Bezug auf die umgebende Flüssigkeit und nicht von ihrer Gestalt abhängt.
Im Alter befaßte sich Galilei mit dem Problem, den Standort von Schiffen auf hoher See zu
bestimmen. Im Zeitalter der beginnenden Ozeanschiffahrt war die Aufgabe höchst aktuell. Die einfachsten Verfahren der Längenbestimmung,
wie sie heute angewandt werden, erfordern eine genaugehende und Normalzeit zeigende Uhr. Da es solche Uhren nicht gab, schlug Galilei vor, die Bewegungen
und Verfinsterungen der Jupitermonde als Uhr zu benutzen. Die Schiffe sollten dazu mit entsprechenden Tabellen ausgestattet werden.
Das Fernrohr wurde, wie wir gesehen haben, nicht von Galilei erfunden. Aber er war einer der ersten, die eines bauten. Andere Erfindungen von ihm
sind die hydrostatische Waage und das Thermometer. Galileis Thermometer benutzte die Ausdehnung der erwärmten Luft. - Da Galilei stets auf exakte Messungen ausging, mußte er auch auf das Problem der genauen Zeitmessung stoßen. Im oben angeführten Zitat beschreibt er die bei den Fallversuchen verwandte Wasseruhr. Außer ihr hatte er nur seinen Puls; denn die hergebrachten Sanduhren und die ersten mechanischen Uhren, die es außerdem gab, waren viel zu ungenau. Seines Pulses bediente sich Galilei auch bei seinen Studien der Pendelbewegung. Zu diesen soll er veranlaßt worden sein durch die Beobachtung des großen Kronleuchters, der an der Decke der Kathedrale von Pisa befestigt war und im Luftzug hin und her schwang. Als Galilei durch weitere Pendelexperimente im Versuchsraum erkannt hatte, daß die Schwingungszeit eines Pendels unabhängig ist von der Schwingungsweite und auch unabhängig von der schwingenden Masse und so allein abhängig von seiner Länge, kam ihm der Gedanke, eine Pendeluhr zu konstruieren. Er fertigte zahlreiche Entwürfe; es gelang
ihm aber trotz seines richtigen Grundgedankens nicht, eine wirklich gehende Uhr zu bauen.
c) Galileis Methode. Würdigung
Für den Zusammenhang unseres Berichts ist ein Blick auf Galileis Methode und das, was sie gegenüber früheren auszeichnet, wichtiger als weitere Einzelleistungen.
Was ist das Auszeichnende an dieser Methode? Dreierlei ist hervorzuheben. Das erste ist die Rolle, die der Mathematik zugewiesen ist.
Auf die Titelseite meiner gesammelten Werke zu setzen: Hier wird es aus unzähligen Beispielen zu begreifen sein, was der Nutzen der Mathematik für das Urteil in den Naturwissenschaften ist, und wie unmöglich es ist, korrekt zu philosophieren ohne die Führung der Geometrie, wie es der weise Grundsatz Platons besagt.
Es ist natürlich, daß Mathematik, auf die Natur angewandt, zum Erfolge führt: denn Mathematik liegt dem Bau der Natur selbst zugrunde.
Die Philosophie ist geschrieben in jenem großen Buche, das immer vor unseren
Augen liegt; aber wir können es nicht verstehen, wenn wir nicht zuerst die Sprache
und die Zeichen lernen, in denen es geschrieben ist. Diese Sprache ist Mathematik,
und die Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren.
Das ist die gleiche Anschauung, die auch aus Keplers Wort spricht: daß überall, wo Materie ist, auch Geometrie sei.
Der zweite hier hervorzuhebende Zug ist die Rolle des Experiments. Es erübrigt sich, das nochmal mit Beispielen zu belegen. Das Experiment ist der Prüfstein der Wahrheit.
Doch kann man nicht sagen, Galilei sei ein "reiner Empiriker" oder bloßer Experimentator. Vielmehr - und dies ist das dritte Kennzeichen - zeichnet sich seine Forschungsweise gerade durch die eigenartige und fruchtbare Verbindung aus, welche Induktion aus dem Experiment und mathematischen Deduktion bei ihm eingehen.
Welches ist die besondere Weise des Fragens, mit der Galilei der Natur gegenübertritt? Diese Frage ist geeignet, uns noch einen Schritt tiefer zu führen, denn sie leitet uns auf das Anliegen, dem Galileis Forschen dient, auf das Erkenntnisideal. Von dem mittelalterlichen Suchen nach dem höheren Zweck in oder hinter allen Dingen der göttlichen Schöpfung finden wir bei Galilei nichts mehr. Es ist auch nicht die Rede von Vollkommenheit oder Rangordnung im Hinblick auf solche Zwecke. Der Rangunterschied zwischen der himmlischen Sphäre der ewigen Vollkommenheit und der irdischen der Veränderlichkeit ist mit dem ersten Blick durch das Fernrohr aufgehoben. Der Vorrang der Kreisbewegung als vollkommener Bewegung ist beseitigt. Es gibt keine "perfekte" Zahl für die Planeten. An die Stelle des Suchens nach dem Zweck, das heißt nach dem Warum tritt bei Galilei die Frage nach dem Wie und insbesondere nach dem Wieviel. Das Fragen geht auf Quantitäten, nicht auf Qualitäten. Auch Kepler sagte, der menschliche Geist sei am besten zum Auffassen quantitativer Verhältnisse geschaffen. Mathematik, welche Galilei n der Natur findet, ist die Lehre vom Meßbaren und vom Quantitativen.
Wir sollen und können uns nicht vermessen, die göttlichen Absichten zu erforschen. Wir sollen und können aber die Natur beobachten und die Wege erkennen, in denen Gott seine Werke tut. Wir sollen und können das, was wir beobachten, messen und aufzeichnen, mathematische Schlüsse daraus ziehen und allgemeine Gesetze in mathematischer Form gewinnen.
Diese Veränderung der Fragestellung, die nicht durch Galilei allein, aber durch ihn am markantesten vollzogen wurde, bezeichnet den Unterschied zwischen mittelalterlichem und modernem Naturwissen. Diese Umkehr bedeutet einen unermeßlichen Gewinn. Sie hat die exakte Naturwissenschaft auf die sichere Grundlage gestellt, von der aus sie von Erfolg zu Erfolg eilen konnte. Doch in der Beschränkung auf die Frage nach dem Wie liegt auch ein folgenschwerer Verzicht.
Diese Antriebe stehen hinter dem Forschen Galileis, teils als von ihm ausdrücklich ausgesprochene methodische Einsicht, teils als ihm selbst nicht voll bewußte Hintergründe. Dem Handelnden sind fast niemals die letzten Gründe seines Verhaltens bewußt. Und Galilei war in der Wissenschaft ein Handelnder. Er war in erster Linie nicht Theoretiker und Systematiker, sondern ein Mann der angewandten Mathematik, der "praktischen Geometrie", wie man damals sagte.
Auch manche Einzelprinzipien seines Naturdenkens setzte Galilei mehr als unausgesprochene und selbstverständliche Annahmen voraus, als daß er über sie theoretisch nachdachte. Es ist bemerkenswert, daß Galilei das Trägheitsgesetz niemals völlig klar in allgemeiner Form niedergelegt hat. Das Gesetz besagt: Der in Ruhe befindliche Körper verharrt in Ruhe, solange keine Kraft auf ihn einwirkt, und der in Bewegung befindliche verharrt in dieser Bewegung, solange keine neue Kraft auf ihn einwirkt. Galilei hat das Gesetz gekannt, benutzt und kann sogar als sein Entdecker gelten. Aber erst Descartes, Newton und andere haben es formuliert. - In der Bewegungslehre arbeitet Galilei mit Begriffen wie Momentangeschwindigkeit und Momentanbeschleunigung, die eigentlich ein begriffliches Arbeiten mit unendlich kleinen Größen voraussetzen. Denn die Festlegung der Geschwindigkeit oder Beschleunigung eines Körpers in einem bestimmten Moment ist schon eine Grenzoperation. In dieser Hinsicht gehört Galilei, wiederum ohne daß er sich dessen bewußt war, zu den Vorläufern oder sogar Begründern der Infinitesimalrechnung.
Die Welt, durch die Physik Galileis gesehen, sieht anders aus als für den mittelalterlichen Menschen. Sie beginnt den Zug anzunehmen, der in neuerer Zeit das Weltbild der Naturwissenschaft immer stärker bestimmt hat: sie wird mechanistisch. Nicht nur die Wissenschaft der Mechanik handelt von Hebeln, Rollen und schiefen Ebenen - die Natur selbst besteht aus solchen Dingen, ihre Wirkungen entspringen den gleichen Gesetzen. So paradox es klingt: In dem mittelalterlichen, alles in eine Einheit bindenden Bild der Welt war Platz für eine unendliche Mannigfaltigkeit von Zwecken, Handlungen, Kreaturen - sobald diese Einheit zerstört ist, beginnt die Welt einen Zug der Uniformität anzunehmen. Das naturwissenschaftliche Weltbild beginnt seine Bewegung auf das Ziel zu, dein es heute nahegekommen ist: ein einziges mathematisch formuliertes Gesetz als fundamentale Tatsache allen Naturseins.
So ist Galilei, der letzte ganz Große, den Italien für längere Zeit im Reiche der Wissenschaft hervorbrachte, mehr noch als durch seine Entdeckungen durch die Wendung, die er der naturwissenschaftlichen Fragestellung gegeben hat, zum Vater der neuzeitlichen Naturwissenschaft geworden.
Später als Astronomie und Physik konstituierte sich die Chemie als Wissenschaft.
Das 16. Jahrhundert gehört noch nicht zur Geschichte, sondern noch zur Vorgeschichte der wissenschaftlichen Chemie, die erst mit dem 17. Jahrhundert einsetzt. Wir können uns deshalb hier kurz fassen, aber einige Männer und Entwicklungen nennen, die den Boden weiter vorbereiteten.
Zu den Gebieten, in denen sich langsam ein Schatz von Wissen über die Stoffe ansammelte, gehört außer der früher gewürdigten Alchimie vor allem die Metallurgie, die mit der Entwicklung des Bergbaus aufblühte. Das wichtigste Werk ist das des Deutschen, Georg Bauer (1495-1555), der unter dem Namen Agricola
bekannt ist. Ferner gehört hierher die Arzneimittelkunde. In dieser ragt das Werk des Paracelsus hervor, den wir bei der Medizin noch zu würdigen haben. Eine
langsam wachsende Literatur entstand ferner über die technischen Verfahren zur Gewinnung oder Zubereitung einzelner Stoffe, so über Schießpulver und Explosivstoffe, über das Destillieren, von Alkohol, über Glas, Porzellan und anderes. Der Niederländer
van Helmont
(1577-1644) erkannte als erster, daß es außer Luft verschiedene Arten von gasförmigen Substanzen geben müsse. Er führte zu ihrer Bezeichnung das 'Wort "Gas" ein.
In alledem war eine Menge von Einzelerkenntnissen und Erfahrungen niedergelegt, aber diese waren noch nicht zu einer einheitlichen und selbständigen Wissenschaft von den Stoffen und ihren Eigenschaften zusammengefaßt.
Simon Stevin: De Beghinselen des waterwichts, zit n. Taylor: History S.100.
Nach Friedrich Jodl: Geschichte der neueren Philosophie
Galilei: Mathematische Demonstration zweier neuer Wissenschaften
Ib., hier zit. n. Taylor History S. 100/101
Galilei: Opere Edizione nazionale, Bd. VIII, S. 613
William Gilbert: De magnete magneticisque corporibus et de magno magnete tellure , zit. nach Taylor: History, S.99
Autor: | Hans Joachim Störig |
Titel: | Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft |
Kurzbeschreibung: | |
Verlag | Verlag W. Kohlhammer GmbH Stuttgart 1954 |
ISBN-Nummer: | -keine- vergriffen |
Literatur und Bearbeitung | |
Bearbeitung (www): | Klaus-G. Häusler |
© 2002 HMTC
- Halbmikrotechnik Chemie;
Klaus-G. Häusler;
haeusler[at]muenster[dot]de;
uiw/fach/matnatlex/literatur/inhalt/stoerig239.htm 26.11.03